Liebe Leserinnen und Leser,
Advent und Weihnachten – das ist wie kaum eine andere Zeit die Zeit der Kinder. Die meisten von uns Erwachsenen verbinden besonders mit dieser Zeit im Jahr viele Kindheitserinnerungen. Für die eigenen Kinder bemüht man sich jedes Jahr neu, das Fest besonders zu gestalten. Bei den Krippenspielen stehen die Kinder im Mittelpunkt des Geschehens. Und an Heiligabend sehen wir alle auf das ganz besondere Kind. Auf den winzigen, neugeborenen Säugling. Auf Jesus Christus.
Dass Kinder oft ganz eigene, für uns manchmal irritierende und doch gleichzeitig auch augenöffnende Sichtweisen haben, das zeigt die folgende Erzählung von Johanna Haberer, die sie vor einigen Jahren im „Wort zum Sonntag“ der ARD erzählt hat:
Kinder
Kennst du jemanden, den du als dein Vorbild bezeichnen würdest, frage ich meine Tochter. Sie ist zehn, hellwach und beobachtet die Menschen genau. Sie denkt eine Weile nach, zögert, sofort fällt ihr niemand ein. Dann hellt sich ihr Gesicht auf. Die Paula, sagt sie, die ist mein Vorbild. So will ich werden, wenn ich mal groß bin.
Was gefällt dir denn so an ihr? Frage ich, etwas enttäuscht, weil ich, die Mutter, als Vorbild offenbar überhaupt nicht in Betracht komme. Nun, sagt sie, Paula ist selbständig und tut immer, was sie sich vornimmt.
Nun bin ich fast beleidigt, denn ich finde, dass ich auch selbständig bin und tue, was ich mir vornehme.
Und was ist mit mir? Frage ich grimmig, warum bin ich kein Vorbild für dich? Ich bin doch auch selbständig und tue, was ich mir vornehme? Da lacht sie und sagt: Dich brauche ich doch nicht als Vorbild, dich habe ich doch in mir drin.
Jesus ist ein großes Vorbild, sagen die Jugendlichen in Umfragen, ein großer Mensch der Weltgeschichte, einer, der die Nächstenliebe gepredigt hat, sogar die Feindesliebe. Ein Mensch auf dem Podest. Ein Vorbild.
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob Jesus ein Vorbild sein wollte für die Menschen. Ich glaube er würde es mit meiner Tochter halten und sagen:
Ich möchte lieber nicht auf einem Podest stehen, ich wäre lieber in dir drin.
Dass Jesus, dass Gott selbst, nicht auf einem Podest stehen möchte, wird schon mit seiner Geburtsgeschichte deutlich. Unter widrigen Umständen geboren, winzig und verletzlich, wie jeder Säugling. Das ist auch irritierend, wenn es um die Geburt des Sohnes Gottes geht. Aber es ist auch augenöffnend, denn es zeigt deutlich wie sonst kaum etwas, dass Gott selbst uns nah sein will, „in uns drin“ sozusagen.
Ich denke, oft vergessen wir das. Gotts scheint uns so weit weg oder wir fühlen uns als Menschen vielleicht auch gar nicht würdig, Gott nahe zu sein. Dabei ist gerade diese Nähe doch der Kern von Weihnachten! Gott kommt uns nahe, damit wir ihm nahe sein können! Warum sonst hätte Gott in die Welt kommen und einer von uns werde sollen, wenn nicht, um uns nahe sein zu wollen?
Gott will uns nah sein in seinem Sohn Jesus Christus. Und dafür dürfen wir ihn gerade nicht auf ein Podest stellen. Ihn in die Ferne rücken, nur aus der Distanz betrachten. Uns ihm (wenn überhaupt) nur mit Vorsicht nähern, als sei er etwas unberührbar Heiliges.
Die Advents- und Weihnachtszeit ist für mich jedes Jahr auch wieder die Erinnerung daran, mich wie ein Kind der Krippe mit dem Kind zu nähern und mich von dem Kind berühren zu lassen, das darin liegt. Die Erinnerung daran, dass Gott nichts anderes will, als in uns zu sein und nicht auf einem Podest. Und dafür diesen Weg auf sich nimmt.
Ich wünsche uns allen, dass wir uns berühren lassen können in dieser Advents- und Weihnachtszeit. Dass wir spüren können, wie nah uns Gott tatsächlich kommt. Und dass wir, getragen von dieser Nähe, in ein neues Jahr gehen können, das unter der Losung des Propheten Hesekiel steht: „Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz lege einen neuen Geist in euch.“
Ihre Pfarrerin Andrea Deminski