Liebe Leserinnen und Leser,
vielleicht geht es Ihnen ja wie mir, wenn Sie aus dem Fenster schauen: Berge, egal wohin man schaut. Natürlich haben wir kein Panorama wie in den Alpen, aber verstecken müssen wir uns auch nicht. Das zeigen auch die vielen gut markierten Wanderwege, die es in unserer Region gibt.
Berge üben auf viele Menschen eine unglaubliche Faszination aus. Vor allem dann, wenn man oben steht und bei schönem Wetter eine unglaubliche Sicht genießen kann. Vielen Menschen wird in den Bergen erst richtig bewusst, wie schön Gottes Schöpfung ist und sie fühlen sich hier oben Gott auch besonders nahe.Gipfelstürmer und Gipfelschnecke
Doch bis es soweit ist und man die wunderbaren Ausblicke genießen, die Schönheit der Schöpfung bewundern und Gottes Nähe spüren kann, kann es oft ein langer und schwieriger Weg sein. Denn wenn man nicht mit dem Auto oder einem Lift nach oben fahren will, hat man oft einen steilen Aufstieg vor sich, der auch sehr viel Kraft kosten kann. Und diesen Aufstieg kann man auf zwei Arten bewältigen, wie die folgende Geschichte auf humorvolle Weise zeigt:
Oberhalb der Baumgrenze, wenn Fels und manchmal auch der Schnee die Herrschaft übernehmen, können nur wenige Wesen überleben. Die sogenannte Gipfelschnecke zählt zu ihnen. Sie verhält sich anders als die Spezies des Gipfelstürmers. Er schnauft, keucht und rennt den Berg hinauf. Und immer, denkt er, sei er Sieger, wenn er wieder talwärts rauscht, bereits den nächsten Gipfel im Blick.
Der vermeintlich besiegte Berg aber schüttelt noch nicht einmal den Kopf. Allenfalls amüsiert er sich kaum merklich. Anders als der Gipfelstürmer ist er nämlich noch immer da und freut sich still. Worauf? Auf die Ankunft der Gipfelschnecke. Sie ist schleichend unterwegs, wodurch sie erheblich an Zeit gewinnt. Denn wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge genießt sie den Höhepunkt bedeutend länger als zuvor der Gipfelstürmer.
Weil die Bergschnecke auch keine stürmischen Geräusche von sich gibt, ist es ihr gegeben, auf dem Gipfel besondere Stimmen hören zu können. Es ist die eigene, die erfrischend anderes als im Tal zu sagen hat. Manchmal aber ist es auch die Stimme des Himmlischen, was dann noch eindrücklicher als der Gipfel selber ist. (Georg Magirius, „Die Gipfelschnecke“, in: Heide Warkentin (Hg.), „Gipfelgebete“, München 2013.)
Ich finde immer, dass man beim Erklimmen von Bergen auch sehr viel über sich selbst lernen kann. Denn vieles in unserem Leben gleicht auch einem Berg: ob es die Arbeit im sprichwörtlichen „Berg von Arbeit“ ist, Lebenskrisen, von denen man nicht weiß, wie man sie bewältigen soll oder was auch immer sich gerade vor Ihnen zu einem Berg auftürmt.
Und wie beim Erklimmen der Berge ist auch hier die Frage: bin ich ein Gipfelstürmer, der gern alles keuchend und rennend abarbeitet? Oder bin ich eine Gipfelschnecke und gehe die Dinge mit Bedacht an, habe nur den einen Berg im Blick, um den es gerade geht? Natürlich will man das Schwierige und Unangenehme so schnell wie möglich hinter sich bringen. Aber oft verliert man dabei auch aus dem Blick, was um einen herum noch so zu hören und zu sehen ist. Was einem in den Schwierigkeiten neue Kraft geben und den Blick weiten kann. Und vielleicht können wir ja so auch Anderen begegnen, die den Weg nach oben mit uns gehen.
Wie in der kurzen Geschichte von der Gipfelschnecke kann uns das langsame und bedächtige Erklimmen unserer persönlichen Berge auch die Ohren öffnen: für Gottes Stimme, die uns immer wieder zuflüstert: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen.“ (Jesaja 54,10).
Ihre Pfarrvikarin
Andrea Deminski